Der Tag der Holy Trails
38 km • + 150 hm • - 4.212 hm
Unsere Rechnung scheint aufgegangen zu sein. Es ist noch nicht einmal sechs
Uhr in der Früh, das digitale Außenthermometer zeigt 1°C. Wir
beobachten zwei Bergsteiger, die draußen Ihr Eisgerät anlegen und
ihr Seil entwirren. Die umliegenden
Berge sehen im Rosa der Morgensonne noch atemberaubender aus als gestern
Abend.
Wenig später stehen auch wir draußen auf der Terrasse
vor der Theodulhütte und bereiten unsere Gerätschaften auf die
Abfahrt vor.
Dann starten wir und fahren über den Gletscher ab. Zunächst zaghaft,
dann immer schneller. Der Firn ist hartgefroren und hat Grip. Wir fangen an
zu driften.
Kleine Wasserrinnen durchziehen das Eis. Man kann diese durchfahren, überspringen
oder einfach links liegen lassen. Immer wieder stoppen wir, um zu filmen
oder um Fotos zu schießen. Irgendwann verschwindet der Felsrüken
zu unserer Linken und gibt den Blick auf das Matterhorn frei. Vor uns liegt
das Mattertal und rechts von uns das Monte Rosa Massiv.
Es ist ein einmaliges Erlebnis diese grandiosen
Kulisse in aller Stille und Einsamkeit in sich aufnehmen zu können
und wohl der schönste Augenblick der Tour!
An einigen Stellen ist das Eis nicht weiß, sondern durchsichtig. Hier
ist Vorsicht geboten. Es ist glatt, spiegelglatt. Dennoch lassen sich diese
Stellen umfahren oder durch geschicktes An- und ungebremstes Überfahren
überwinden. Kurz vor der Seilbahnstation Trockener Steg
(2.939 m) nehmen diese Gefahrenstellen zu.
Das Eis wird schließlich auch matschig und schwer befahrbar. Wir sind
daher ganz froh über den Umstand, hier wieder normalen Untergrund unter
den Reifen zu haben und fortan auf Schotter weiterfahren zu können.
Stop! Schotter?! Ausgeschlossen die verbleibenden Höhenmeter hinab nach
Zermatt auf Schotter oder gar einer Skipiste sinnlos zu vernichten. Ein Blick
auf die Wanderkarte zeigt uns das was wir suchen. Eine rote Linie, eine wunderschöne
rote Linie mit vielen Zacken!. Schnell ist der Einstieg gefunden und bereits
nach wenigen Metern wird uns klar - Volltreffer!
Verblockter Fels wechselt mit flowigen
Abschnitten, dann bereichern gigantische, von früheren Gletschermassen
glattgeschliffene Granitbrocken die Abfahrt. Die Linienwahl hängt vom Fahrkönnen
ab. Jede Sekunde müssen mehrere Entscheidungen zugleich getroffen werden.
Über die Stufen oder über den Slickrock, Bremsen, Hinterrad versetzen,
Noseweely, Drop, Bremse auf, Stop, Stand, kurz innehalten, OK, die Sektion erscheint
fahrbar, Schwerpunkt verlagern, runter, jup ... geschafft, wo ist die nächste
Markierung, was macht mein Vordermann? Volle Konzentration. So turnen wir den
Trail hinab und können unser Glück kaum fassen, diese Traumabfahrt
entdeckt zu haben. Roland bannt die schönsten Sektionen des Trails auf
Film.
Dann kommt neben dem allgegenwärtigen Matterhorn
auch noch der Gornergletscher
ins Blickfeld. Weiter unten wird der Trail flüssiger und einfacher fahrbar.
Dann fahren wir über eine Skipiste, nein nicht hinab, sondern diagonal
drüber, um gleich gegenüber wieder in das Trailparadies von Zermatt
einzutauchen.
Enge Spitzkehren, die das Versetzen des Hinterrades erfordern, folgen in kurzer
Abfolge mit kniffeligen Felspassagen. Nochmals geht es voll zur Sache. Und das
Ganze im Angesicht des von der Morgensonne imposant beleuchteten Matterhorns.
Dann begegnen wir den ersten Fußgängern.
Wir sind fast ganz unten im Tal angelangt. Es zahlt sich nochmals aus, heute
ganz früh und weit oben gestartet zu sein. Wir fahren bereits zwischen
einigen Hütten am Rande von Zermatt hindurch und befinden uns noch immer
auf einem Trail. Dann eine Zwangspause. Dave hat sich bei einem Sprung in die
Steine einen Platten eingefahren. Der Big Betty fährt sich halt doch ander
als der gewohnte DH-Reifen! Ich nutze die Gelegenheit kurz die Beläge meiner
Bremse zu wechseln. Schließlich spuckt uns der Trail im Ortskern von Zermatt
aus. Wow, keinen einzigen Meter dieser über 1.700 Höhenmeter langen
Abfahrt auf Schotter oder gar Asphalt verschwendet. Und kaum 10 Menschen begegnet.
Nach einem kurzen Einkauf beim Bäcker und der anschließenden Frühstückspause
auf einer Parkbank begeben wir uns zur Rothornbahn. Den ursprünglichen
Plan heute auch noch auf den Gornergrat zu befahren lassen wir fallen. Wir befürchten
es zeitlich dann nicht zu schaffen.
Die erste Bahn befindet sich in einem Tunnel. Schnell sind die Bikes verstaut
und es geht rasant hinauf, bevor wir in eine kleine Gondelbahn umsteigen. Das
dritte und letzte Stück auf das Rothorn überwinden wir in einer großen
Kabinenbahn.
Wir stehen am Fenster und trauen unseren Augen kaum: Direkt unter der Seilbahn
verläuft ein Trail der nur aus Spitzkehren zu bestehen scheint! Immer steil,
alle Kehren ausgesprochen eng. Für mich und Dave ist sofort klar: Dieser
Trail muss sofort, also direkt nach dem Ausstieg aus der Gondel befahren werden!
Zwar war diese Abfahrt nicht geplant, aber einen derart traumhaften Trail können
wir uns heute einfach nicht entgehen lassen. Roland beschließt oben auf
uns zu warten, was es uns ermöglicht, die schweren Rucksäcke bei ihm
zu lassen und nur mit dem Nötigsten ausgerüstet in dieses Spitzkehrengewitter
einzufahren.
Rolf begleitet uns und wenige Meter nach der Bergstation beginnt der Spaß.
Zunächst extrem eng, eine steile Felstreppe, Kehre am Abgrund, kaum Platz
zum Versetzen. Für Biker ohne solide Versetztechnik und mit geringsten
Anzeichen von fehlender Schwindelfreiheit ist hier sofort Schluss. Wir trailen
durch die Felsbrocken und wedeln durch die engen Kehren. Über unseren Köpfen
schwebt während der Abfahrt zweimal die Seilbahn hinweg. Eine kurze verblockte
Flachpassage zwingt uns die Bikes einige Meter zu schieben. Dann geht es wieder
weiter. Einige wenige Kehren, die wir nicht auf Anhieb fahren können tragen
wir wieder hinauf und probieren sie mehrfach, bis die Sektionen gemeistert sind.
Die letzten Kehren werden einfacher, das Gelände flacher und schließlich
rollen wir wieder auf die Seilbahnstation zu. Die ganze Abfahrt hat knapp zwanzig
Minuten gedauert, alles bei strahlendem Sonnenschein und gegenüber dem
allgegenwärtigen Matterhorn.
Für 11.50 CHF geht es gleich wieder nach oben. Wieder kleben wir am Fenster
und schauen gebannt hinab auf den soeben gemeisterten Trail. Ich zähle
die Kehren. 35…44..hier haben wir mehrfach probiert…58…da
waren die ganz Engen…65…hart am Abgrund…70… die Treppe…80…83,
84, 85 und 86. Unglaubliche 86 Kehren an diesem Hang.
Wir steigen aus. Roland liegt in der Sonne und döst. Auf uns wartet nun
gleich das nächste Singeltrail-Highlight: die Befahrung des exponierten
Ritzengrades. Der Einstieg ist derselbe wie der von der soeben absolvierten
Abfahrt. Nach den ersten Kehren zweigen wir nach rechts ab und finden uns nach
wenig später in einem Gewirr von Felsbrocken und Geröll wieder.
Über den verlockten und fahrtechnisch höchst anspruchsvollen Ritzengrat
geht es hinab zum Europahöhenweg. Hier ist eine völlig andere Fahrtechnik
gefordert. Langsames Vorantasten, dosiertes Schwung holen, Stufen fahren, Linie
suchen. Meist hat der Trail genug Gefälle, so dass die Sektionen fahrend
zu meistern sind. An einigen Stellen müssen wir Gegenanstiege schiebend
bewältigen. Der Blick zurück ist unbeschreiblich. Oben auf dem Rothorn
thront die Seilbahnstation, darunter nur ein wildes Gewirr aus Fels. Der soeben
gefahrene Weg ist unsichtbar. Wir begegnen nur wenigen Wanderern. Wohl zu schweres
Gelände für die klassischen Zermatt-Touristen.
Die wenigen, denen wir begegnen versetzen wir ins Staunen. Sie warnen uns vor
den noch „extremeren“ Abschnitten, die weiter unten auf uns warten
sollen. Wir freuen uns darauf.
Und dann kommt einer dieser Abschnitte. Ein Stahlseil hängt links des Weges,
rechts ein Felsbrocken, dazwischen eine enge extrem steile Treppe, am Ende eine
enge Rechtskehre, drei Meter danach direkt am Abgrund eine Linkskehre auf nur
handbreitem, rutschigem Trail. Die Schlüsselstelle! Kein Platz für
den Lenker? Doch, aber nur wenn einer von uns das schlaffe Stahlseil aus dem
Weg zieht und Platz schafft.
Dave quetscht sich zwischen die Felsen, um mir genau diesen Raum zu geben. Ich
probiere es, knapp passt der Lenker in den neu geschaffenen Raum, die Treppe
klappt, die Rechtskehre auch. Dann siegt die Vernunft. Für eine Linkskehre
direkt an einem 30 Meter hohen Abgrund fehlt mir die 100-Prozentige Routine.
Hier kann man sich keinen Fehler erlauben.
Jetzt probiert es Dave. Er kommt genau so weit wie ich, dann hebelt Ihn der
Rucksack aus. OK, hier darf mal ohne gefahren werden. Also Bike noch mal die
Treppe hoch tragen und noch
einmal. Dieses mal klappt´s auf Anhieb. Dave hat diese unglaubliche
Passage gemeistert. Respekt!
Wir wedeln noch 40, 50 enge Kehren hinab, um schließlich auf den von
vielen Bikern befahrenen Europahöhenweg zu stoßen. Der Weg ist anfangs
relativ breit, wird aber schließlich zu einem schönen Singletrail
am Hang entlang. Immer wieder begegnen wir Bikern und Wandergruppen. Saftige
Gegenanstiege und, flaches Terrain kosten Kraft, machen aber Spaß.
Kurz vor Täsch wird es nochmals etwas heftiger. Der Trail wird enger und
führt ausgesetzt und über einige Stufen steil abwärts. Langsam
verschwindet das Matterhorn hinten im Tal. Dann kommt man an den Punkt der Entscheidung:
weiter den hoch nach Ottavan und danach weitere 500 oder 600 Höhenmeter
beim Auf und Ab des Höhenwegs machen oder gleich den flowigen Trail durch
den Lärchenwald hinab nach Täsch (1.450 m) einschlagen?
Wir haben heute genug gesehen und erlebt und wählen die letztere, deutlich
bequemere Variante. Der Trail macht nochmals richtig Spaß und fordert
in engen Kehren nochmals unser Fahrkönnen. Aber das Versetzen und das auf
dem Vorderrad durch die Kurven Surfen haben wir heute ausgiebig trainieren können,
so daß die Fahrmanöver nun fast von alleine klappen. Es gelingt uns
abermals das Tal komplett auf Trails zu erreichen.
Nach einem kurzen Einkauf im Supermarkt machen wir Rast am Bach. Dann führt
uns der Rad-und Wanderweg weiter in Richtung St. Niklaus (1.127
m). Auch hier ist das Glück auf unserer Seite. Wir landen zufällig
auf einer ausgeschilderten Cross Country Stecke. Der schmale Weg führt
zunächst einige Meter bergauf, um alsbald in einen flowig abwärts
führenden Trail überzugehen.
Wir sehen bereits die ersten Häuser von St. Nikolaus, als wir den Trail
verlassen. In der Touristinfo wird schnell ein günstiges Zimmer ausfindig
gemacht. Leider ist oben in Jungu (1.955 m) heute kein Bett
mehr frei, sonst hätten wir noch mit der Seilbahn nach oben fahren können.
Dafür genießen wir den Luxus des Talortes mit Dusche, Waschmöglichkeit
für die Kleidung und einer Pizzeria. Insbesondere das Duschen war nach
den letzten zwei Tagen bitter notwendig, zumal wir gestern auf der Theodulhütte
auf diesen Luxus komplett verzichten mussten.
Fazit:
- Unglaublicher Tag bei traumhaftem Wetter ...
- ... auf Trails, die es in dieser Qualität und Fülle nur auf einem Ort der Erde zu geben schein: im Ort der Holy Trails, in Zermatt im Angesicht von Matterhorn und Monte Rosa.