Gewitter, Eis und Regen
41 km • + 406 hm • - 2.444 hm
Es ist Samstag, kurz nach 14.00 Uhr. Nach neun Stunden Autofahrt erreichen wir Gsteig (1.185 m) im Berner Oberland. Unser Ziel ist der Gletscher von Les Diablerets. Noch scheint die Sonne und es ist warm. Schnell werden die Bikes von uns zusammengebaut. Wir, das ist das alte Transalp Team von 2004, mein Bruder Roland, Rolf und Dave. Und wieder einmal soll bei unserer Alpentour ein Film entstehen. Daher wird in unseren Rucksäcken neben dem üblichen Tourengepäck eine umfangreiche Film- und Fotoausrüstung verstaut.
Wir starten, obwohl sich oben am Berg einige bedrohliche Wolken zusammenbrauen.
Der Wetterbericht hatte jedoch für Nachmittags eine Wetterbesserung versprochen.
Wir fahren die 400 Höhenmeter bis zum Col du Pillon (1.546
m) bei strahlendem Sonnenschein hinauf, oben an der Talstation der Seilbahn
angekommen umhüllt uns aber bereits dichter Nebel. Dennoch lösen wir
für üppige 43,-SFR pro Nase ein Ticket nach oben. In der großen
Gondel sind wir die eizigsten Fahrgäste heute. Wir durchstoßen mehrere
Wolkenschichten, sehen kurzzeitig ein paar Fetzen von der atemberaubenden Landschaft.
Kaum sind wir oben ausgestiegen beginnt es zu tröpfeln, zudem ist es bitter
kalt. Die ersten Meter auf der völlig aufgeweichten Skipiste sind dank
des Gefälles noch mit dem Bike befahrbar. Inzwischen regnet es heftig,
dazu gesellen sich Graupelschauer. Ein schöner Anfang für unsere Tour.
Nebel, weicher matschiger Untergrund, Orientierung? Fehlanzeige! White out.
Wir folgen der Line auf meinem GPS Gerät und stehen plötzlich vor
einer weißen Kiste. Es regnet heftig, dazu immer wieder Graupelschauer.
Die weiße Kiste entpuppt sich als Container, der mitten auf dem Gletscher
steht, zum Glück unverschlossen. Also rein in die Kiste und erst mal abwarten.
Wir nehmen´s mit Humor. Ein Dröhnen im Nebel, aha, eine Pistenraupe
kommt vorbei gefahren und dreht eine Schleife um unseren Unterstand. Der Fahrer
entdeckt uns und fragt uns auf Französisch, wo wir denn noch hin wollen.
Zum Sanetschpass? Bei dem Wetter, mit dem Bike? Völlig Irre!
Nach 20 min lässt das Prasseln des Regens auf dem Blechdach auf, der
Tour St. Martin (2.908 m), ein riesiger kegelförmiger
Monolith ist kurz am Horizont erkennbar.
Markant markiert dieser Monolith aus Fels das Ende des Gletschers. Dort ist
eine Hütte, leicht erreichbar, so scheint es zumindest. Wir brechen auf,
ein Drittel des Weges ist geschafft als plötzlich ein Blitz die Szenerie
beleuchtet. Super, Gewitter auf 3000 Metern Höhe, ungeschützt auf
einer ebenen Eisfläche.
Eisfläche? Schön wärs, knöcheltiefer Schneematsch macht
das Vorankommen hier so einfach wie eine Wanderung
in Kaugummimasse. An Fahren auf den Bikes ist nicht zu denken. Ich sprinte
los, zur schützenden Hütte. Wie weit? 500 Meter, oder doch 900? Ein
Blitz, instinktiv zähle ich einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiund-kawumm!
Aua, das war nahe. Der Tour St. Martin ist wieder im Nebel verschwunden, die
Skipiste weist den Weg. Vor mir ein Skilift, ein Prima Blitzableiter, oder eine
Anlage, die die todbringende Gefahr direkt zu mir leitet? Wieder ein Blitz,
ich spüre die Energie in der Luft, jetzt schnell, im Laufschritt unter
den Metallmasten hindurch, 100 Meter Sprint. Ich drehe mich um. Der Rest der
Gruppe ist zurückgefallen.
Wäre es besser gewesen zurück zum Metallcontainer zu gehen? Erst jetzt
kommt mir dieser Gedanke, zu spät, jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Wieder blitzt und donnert es, wie Peitschenhiebe treibt mich dies an, ich sprinte
wieder los, obwohl ich eigentlich meine Kräfte schon verbraucht habe. Wieder
ein Lift, noch mal zusammen reißen, Sprint und dann endlich erscheint
es wieder aus dem Nebel, der Tour St. Martin. Davor die vermeidlich sichere
Hütte.
Nochmals lange 200 Meter trennen mich von diesem Rettungsanker. Irgendwann erreiche
ich die Hütte. Geschlossen und natürlich verschlossen. Klasse. Einzig
die zwei Plumsklos vor der Hütte sind offen. Eine wahrlich besch…
Situation. Egal, hier kann ich jedenfalls mal meine Brille putzen und aus dem
Trockenen heraus die anderen drei der Gruppe bei ihrem Marsch durch den Schneematsch
fotografieren. Kaum sind diese bei mir angekommen lässt der Regen nach,
das Gewitter ist vorbei und der Nebel lichtet sich. Der Blick wird frei in
die Tiefe und hinab Richtung Rhonetal.
Nach einer kurze Verschnaufpause brechen wir auf und umgehen auf einem Geröllfeld
den Tour St. Martin. Bald liegt Firn auf den Felsen und wir rutschen hinab bis
zu den nächsten Felsbrocken. Die Wegmarkierungen sind meist zugeschneit,
aber auf einen Weg ist man auf dem nun folgenden Streckenabschnitt ohnehin nicht
angewiesen. Es geht über ein riesiges Felsplateau,
welches der früher einmal wesentlich mächtigere Gletscher glatt geschliffen
hat. Leider liegt dieses Jahr noch viel zu viel Schnee in den Mulden und Senken.
Ein wirklicher Abfahrtspaß wird immer wieder durch diese unkalkulierbaren
Schneefelder gehemmt.
Dave überschlägt sich sogar einmal beim Versuch vom Felsen direkt
auf den Schnee zu fahren, da Ihm das Vorderrad fast bis zum Lenker wegtaucht.
Zum Glück ist die Landung sehr weich. Wir haben Spaß, spielen mit
dem ungewohnten Mix aus Fels und Schnee und gelangen auf einer ziemlich willkürlich
gewählten Route schlussendlich zur Cabane de Prarochet
(2.555 m). Angesichts der immer noch wechselhaften Wetterlage lassen wir die
Hütte links liegen und fahren auf dem Wirtschaftsweg hinab ins Tal.
An einem kleinen See wollen wir nochmals auf die Felsen fahren, da uns der Schotterweg
zu langweilig wird. Leider sind wir nach einigen Minuten wieder von aufziehendem
Nebel umhüllt. Die Weiterfahrt auf den durch tiefe Spalten versetzten Felsen
und direkt an Steilabbrüchen wird uns zu heikel. Daher fahren wir in einem
Bogen zurück auf den Schotterweg. Dieser führt durch flache Mulden
und nach einigen steilen Gegenanstiegen letztendlich zum Col du Sanesch.
Der parallel zur Straße nach Sion vorlaufende Wanderweg ist völlig
durchweicht und verschlammt, so dass wir beschließen in Richtung Hotel
du Sanetsch (2.047 m) zunächst auf der Straße abzufahren.
Inzwischen regnet es wieder stark. Wir fahren in einen Tunnel. Dave fährt
hinein in die Dunkelheit und aktiviert vermutlich via Bewegungsmelder einige
Lampen. Auch hier tropft es von der Decke und der Untergrund ist glitschig.
Am Ende des Tunnels bemerken wir, dass wir oben im Regen den Abzweig zum Hotel
Sanesch verpasst haben. Schön windet sich unterhalb des Hotels der eigentlich
geplante Trail ins Tal. Schade, aber bei dem Wetter kein allzu großer
Verlust.
Wir entdecken auf der Karte eine weitere Möglichkeit abseits der Straße
ins Tal zu gelangen und da der Regen inzwischen wieder aufgehört hat, beschließen
wir den Trail zu suchen. Volltreffer! Es führt ein technisch anspruchsvoller
Trail steil hinab nach Glarey (1.547 m). Enge verschachtelte
Spitzkehren, die das Versetzen des Hinterrades verlangen, schmale feuchte Rinnen
sowie heute besonders glitschige Wurzelpassagen sind genau das Terrain von Dave
und mir. Wir sind inzwischen sehr glücklich darüber, den wesentlich
einfacher aussehenden Trail am Hotel du Sanetsch verpasst zu haben, und stattdessen
dieses fahrtechnische Schmankerl befahren zu können.
Schließlich erreichen wir die Fahrstraße unten im Tal und befinden
uns alsbald wieder auf der ursprünglich geplanten Route. Jetzt könnte
man gemütlich hinab nach Sion rollen und den spannenden und abwechslungsreichen
Tag auf der Straße ausklingen lassen.
Schön wär´s. Bereits wenige Minuten nachdem wir den Trail verlassen
haben beginnt es wieder zu tröpfeln. Das Tröpfeln geht bald in einen
kräftigen Landregen über.
Wir rasen GPS-gesteuert auf der vorab geplanten Route abwärts. Oben donnert
es wieder, sei´s drum, Gewitter im Tal sind doch nur Kindergeburtstag.
Dafür schüttet es nun wolkenbruchartig, wenigstens ist es nicht allzu
kalt. Durch die Weinberge oberhalb von Sion (491 m) geht es
weiter nach unten. Ein Glück bei dem Wetter nicht an jeder Kreuzung die
Karte aus dem Rucksack ziehen zu müssen.Punktgenau erreichen wir kurz nach
acht Uhr völlig durchnässt die vorab gebuchte Unterkunft.
Die Gastgeber stellen für uns gleich einen Kleiderständer in der
Garage auf. Unsere Nachfrage nach einer Einkehrmöglichkeit in der näheren
Umgebung wird mit dem Angebot, ein echtes Walliser Raclette zuzubereiten, beantwortet.
Wir nehmen dieses Angebot dankend an, zumal wir gar keine trockene Kleidung,
geschweige denn Schuhe mehr haben um aus zu gehen.
Bei köstlichem, selbst gekelterten Wein und Raclette vom ganzen Laib lassen
wir den Abend gemütlich ausklingen.
Fazit:
- Diesen ereignisreichen Tag mit miserabelsten Wetterbedingungen hätten wir uns eigentlich ersparen können. Hätte das schlechte Wetter 30 min früher begonnen wären wir mit dem Auto nach Sion gefahren.
- Das neue GPS Gerät hat sich sowohl im Nebel als auch bei den sintflutartigen Regenfällen als sinnvolle Hilfe erwiesen.
- Am ersten Tag des Westalpen-Abenteuers sind wir noch bei Hagel, Gewitter
und Sturzregen samt Fahrrädern auf dem Gletscher herumgetanzt. Links
und rechts von uns sind die Blitze eingeschlagen und wir konnten uns gerade
so in ein kleines Toilettenhäuschen einer verlassenen Berghütte
flüchten.
Die Abfahrt im Schnee und Regen hat uns derart durchnässt, dass wir die Sachen erst gut 24 Stunden später wieder trocken bekamen.