Die Nebelwanderung
95 km • + 3.359 hm • 07:23:00 Nettozeit
Der Wecker klingelt um sechs Uhr. Wir sind bei Rolf in Weilheim. Abends zuvor
sind Carsten, Dave, ich und die Kameraleute André und Micha hier angekommen
und hatten die letzten Details unserer diesjährigen Tour bei einem reichhaltigen
Abendessen und Augustinerbräu durchgesprochen. Wir haben eine erste Tagesetappe
von fast hundert Kilometern und weit über 3.000 Höhenmeter vor uns.
Dazu das Filmprojekt. Ich habe mich entschlossen meine Diplomarbeit mit dem
diesjährigen Alpencross zu verbinden. Bald genug sollte uns klar werden,
dass der Faktor Zeit unser härtester Gegner sein wird.
Nach dem Frühstück packen wir alles in zwei Autos und fahren gen Mittenwald
(905 m). Ein leichter Regen setzt ein. Die dicken Tropfen platzen gegen
die Windschutzscheibe. Die Berge vor uns sind nur hinter einer dumpfen Nebelwand
zu erahnen. Bis kurz vor Mittenwald haben wir Regen. Noch sitzen wir im Auto.
Trotzdem ist es etwas beunruhigend. Beim Ausladen an der Liftstation in Mittenwald
hat sich das Wetter wieder beruhigt. Das Karwendel taucht hinter den Wolken
hervor. Es ist noch Zeit für ein Abfahrtsfoto
und schon sitzen wir im Sattel.
Bis Scharnitz (964 m) geht es durch den schönen Bergwald.
Das erste Mal richtig in die Pedale treten müssen wir dann auch schon kurz
nach Scharnitz auf dem Weg zum Karwendelhaus (1.765 m). Die
Sonne strahlt vom Himmel herab und wir nutzen die Zeit für Filmaufnahmen
während wir dem Bachlauf folgend das Karwendeltal hinauffahren. Eben noch
in der Stadt Mittenwald erreichen wir bald die Baumgrenze.
Am Karwendelhaus angekommen
zieht wieder Nebel heran und es wird merklich kühler. Wir versäumen
nicht viel Zeit und fahren hinab. Es beginnt zu regnen. Durch den Kleinen
Ahornboden, sonst ein beliebter Picknickplatz mit saftigen Wiesen und
einzelnen Baumgruppen, brausen wir nur hindurch.
Dave: „Shit, was war das für ein Knacken?! Ich muss anhalten. Au Backe! Auf der schnellen Schotterabfahrt hat mein Schaltwerk versucht sich einmal um die Kassette zu wickeln und dabei Schaltarm und Schaltauge verbogen. Zum Glück kann ich so noch weiterfahren, doch die Kette ist bei der Aktion auch gut in Mitleidenschaft gezogen worden.“
Im Johannestal stürzt sich neben uns der gleichnamige Bach in einer tiefen Schlucht zu Tale. Die weiße Gischt des nassen Schotterwegs spritzt uns ins Gesicht. Wir sind schon zu spät dran für den Treffpunkt mit dem Filmteam im Rißbachtal. André und Martin sitzen schon eine Stunde im Bach, als wir im strömenden Regen ankommen. Die Kamera ist unter einer Regenjacke verpackt. André steht daneben und Michael hält den Schirm darüber. Trotz der widrigen Umstände drehen wir ein paar Einstellungen. Kurz darauf hört der Regen auf. Wir biegen Daves Kette wieder zurecht und picknicken gemeinsam neben dem Auto. Es ist vierzehn Uhr. Seit sechs sind wir auf den Beinen, seit halb zehn beim Fahrradfahren. André und Michael haben Käse, Wurst, Brötchen und Gemüse eingekauft. Hungrig wie Wölfe stürzen wir uns darauf.
Durch das Rißbachtal geht es die Mautstraße entlang. Während
an schönen Tagen hier der Touristenrummel tobt, ist bei dieser Wetterlage
kaum jemand zu sehen. Das Filmteam dreht uns vom Auto aus - parallel, von hinten,
von vorne und Details. Der Fahrbahnbelag ist feucht, doch der Regen hat aufgehört.
Am Großen Ahornboden beginnt unser Anstieg zum Westlichen
Lamsenjoch (1.940 m). Die beiden Kameraleute müssen
außen rum ins Inntal fahren.
Für uns geht es nun noch 750 Höhenmeter auf Schotter und Geröll
hinauf. Es wird richtig kalt und der Regen ist wieder da. Es hilft nichts, wir
müssen da rüber.
Carsten: „Es schüttet wie aus Kübeln. Die Bauarbeiten am Weg haben den Aufstieg in ein riesiges Schlammloch verwandelt. Beim Anziehen der Regenhose über die total versifften Schuhe wird sie wenigstens auch mal von innen braun... An Fahren ist jetzt nicht mehr zu denken. Kurz vor der Passhöhe wo die anderen schon warten stell ich mir das erste mal die Frage nach dem Sinn des ganzen Unternehmens...“
Dichter Nebel umschließt die Landschaft um uns herum. Bis vor kurzem war der obere Teil des Weges zwischen Westlichem und Östlichen Lamsenjoch unbefahrbar. Doch der Weg wurde vor wenigen Tagen neu gegraben und die Tragepassage kurz vor der Lamsenjochhütte ist nun umfahrbar. Auf dem Westlichen Lamsenjoch sehen wir kaum fünf Meter weit. Ich baue die Helmcam für einen ersten Test zusammen. Zwischen den Nebelschwaden kommt ab und zu etwas Licht und wir erkennen die Lamsenjochhütte auf dem Östlichen Lamsenjoch. Es ist nicht ganz ungefährlich dem schmalen Weg über die nassen Steine zu folgen. Mehrmals steige ich zu meiner eigenen Sicherheit ab. Links neben mir geht es beachtlich hinab.
An der Lamsenjochhütte angekommen ist immer noch dichter Nebel. Unter
den Regenjacken sind wir verschwitzt von dem Anstieg. Wer noch etwas Trockenes
im Rucksack hat zieht es drunter. Wenige Meter nach der Lamsenjochhütte
biegt ein Singletrail recht von der Schotterpiste ab. Der erste anspruchsvolle
Trail der Transalp! Dave und Carsten fahren voraus. Sie sind begeistert von
dem akrobatischen Fahren durch
die Steinbrocken. Ich selber friere mächtig. Die Temperatur liegt bei
10 Grad. Von Außen bin ich nass durch den Regen, unter den Klamotten verschwitzt.
Ich habe immer noch die Helmcam auf. Die Lichtverhältnisse ändern
sich ständig. Wolken, Nebel, dann kommt wieder kurzzeitig die Sonne raus.
Ich probiere aus, wie die Automatikblende arbeitet und versuche unterschiedliche
manuelle Einstellungen von Blende und Weißwert.
Der Trail wird immer unwegsamer. Zwischen den Steinbrocken jeglicher Größe
ist ein durchkommen teilweise nur möglich, wenn man das Rad schultert.
Ich baue die Helmkamera ab und filme wieder aus der Hand. In dem Moment zeigt
Carsten aus 20 Meter Entfernung auf den Hang hinter mir. Da steht eine Gruppe
Gämsen. Ich beobachte sie durch die Kamera mit dem Tele. Fantastisch wie
sich die Tiere sicher im schroffen Gestein fortbewegen.
Nach etwa einer halben Stunde gelangen wir wieder auf
den Schotterweg. Kaum haben wir etwas Geschwindigkeit erreicht um hinab
ins Inntal zu brausen, fallen wieder dicke Regentropfen auf uns herab.
Durch Schwaz (538 m) fahren wir schnell durch. Es ist wieder
trocken. Im Fahrtwind perlen die Tropfen von meiner Regenjacke ab. Merklich
wärmer ist es im Tal. Ein Stück geht es am Inn entlang, bis wir in
Pill (556 m) wieder auf André
und Michael treffen. Wir geben kurz ein paar Statements vor der Kamera ab.
Dann drängt die Zeit auf einmal. Bis zur Weidener Hütte (1.856
m) haben wir noch 1.500 Höhenmeter vor uns. Es ist schon 19 Uhr und wir
sind bereits über 70 km und fast 2.000 Höhenmeter gefahren. Sicherheitshalber
rufen wir bei der Hütte an und fragen ob wir nach 21 Uhr noch Quartier
und Essen bekommen. Sie sagen uns, dass wir das heute nicht mehr schaffen würden.
Wir rechnen uns die Höhenmeter und die verbleibende Zeit bis zur Dunkelheit
aus und beschließen zu fahren. Wir versprechen bis 21.45 anzukommen. Bis
wir loskommen ist es dann aber auch schon 19.30 Uhr!
Nachdem die Straße nach Weerberg zuerst kräftig
ansteigt und wir schnell an Höhe gewinnen, zieht es sich nach hinten ins
Tal immer mehr hinaus. Ich habe Hunger und fühle mich erschöpft. Zwei
Riegel und viel Wasser nehme ich zu mir während ich den drei Anderen hinterher
fahre. Nachdem wir die Straße verlassen und dem Wanderweg für die
restlichen 600 Höhenmeter folgen beginnt die Dämmerung. Eine Kurze
Zeit fahre ich voraus. Jetzt hat es mich gepackt. Ich will hier rauf. Der Nebel
setzt wieder ein. Wir sehen nur noch wenige Meter weit. Dave und Carsten kennen
zum Glück die Strecke. Außerdem ist sie regelmäßig markiert.
Carsten bleibt zurück als er nochmals einen Riegel isst. Rolf und Dave
fühlen sich noch ganz fit und fahren jetzt voraus.
Carsten: „Irgendwie habe ich es heute morgen etwas zu schnell angehen lassen und der schwere Rucksack tut sein Übriges. Ich habe Hunger, in meinem rechten Knie verspüre ich bei jeder Kurbelumdrehung einen stechenden Schmerz und eigentlich reicht es für heute. Ich falle zurück, es beginnt zu regnen, es wird dunkel...ich bin noch nie bei Nacht im Quartier angekommen...“
Der Wald sieht wunderschön aus im Nebel. Während mit der Schweiß
in die Augen läuft und mir der Rücken schmerzt bewundere ich die
anmutige
Schönheit der schwarzen Baumriesen. Die Geräusche des Waldes dringen
wie von ganz weit weg an mein Ohr.
Der Weg ist so steil, dass ich öfters vom Sattel steige, um Rücken
und Knie etwas zu entlasten. So trotte ich ein Stück, um mich dann wieder
für ein paar Hundert Meter auf den Sattel zu werfen. Die Bäume werden
lichter und ich sehe zwei Gestalten vor mir im Nebel auftauchen. „Wir
sollten zusammen bleiben!“ höre ich Rolf zu mir sprechen. Er und
Dave stehen vor mir auf dem Weg. „Carsten fehlt,“ antworte ich.
Carsten: „Mein Höhenmesser zeigt 1.400 m, ich fahre im ersten Gang den Berg hoch, noch 300 m bis zur Hütte...1.402 m, es ist dunkel, ich hole die Stirnlampe aus dem Rucksack...1.404 m, das kann gar nicht sein, ich arbeite hier wie wahnsinnig und komme nicht höher. Ich stell’ den Tacho um auf km, durchhalten, nicht auf die Höhe schauen, 1 km lang nicht drauf schauen...500 m, wie hoch bin ich jetzt? Nicht drauf schauen 600 m, ich muss wissen wie weit es noch ist...es regnet, ich habe keine Lust mehr, ich schaue nach 1.410m...Oh Mann!“
Wir warten ein paar Minuten im Nebel und beginnen dabei die sich nun verbreitende
Kälte zu spüren. „Ich muss weitergehen, sonst kühle ich
vollkommen aus,“ gesteht Rolf.
Langsam machen wir uns auf den Weg. Der Höhenmesser sagt uns, dass es nicht
mehr weit sein kann. Und tatsächlich erreichen wir nach sechs oder sieben
weiteren Kehren die Weidener Hütte.
Carsten: „Ein Licht, 1.450 m, immer noch 250 m. Eigentlich könnte es ein Ende haben...ein Ruf aus dem Nebel....“
Kaum haben wir die Räder untergebracht kommt auch schon Carsten aus dem
Nebel. „Das ist aber noch nicht die Weidener Hütte?“ fragt
er. Durch den Regen hat sich sein Höhenmesser manipuliert. Er ist bergauf
gefahren und bergauf gefahren und hat sich scheinbar kaum nach oben bewegt.
Das hat ihn völlig fertig gemacht. Dazu kam ein Problem mit seinem rechten
Knie, dass sich noch die ganze Tour durchziehen sollte.
Durch die erleuchteten Fenster sehen wir weitere Biker und die Wirtsleute im
Inneren der Hütte. Um 22:00 Uhr trete ich als erstes in die Hütte.
Die Wirtin schaut anerkennend auf ihre Uhr. „Von woher kommen Sie den
heute?“ fragt sie. Ich atme die warme, heimelige Hüttenluft in vollen
Zügen ein und antworte: „Von Mittenwald über das Lamsenjoch.“
„Von Mittenwald über das Lamsenjoch bis hier her an einem Tag –
Ihr seid ja verrückt,“ erklärt sie. Ich fasse es befriedigt
als Lob auf und setzte mich in die warme Gaststube. Dave, Rolf und Carsten folgen
mir.
Die große Auswahl haben wir beim Essen zu dieser späten Stunde nicht
mehr. Speckknödelsuppe oder Käseknödelsuppe lautet das Angebot.
Es schmeckt großartig! Ein letztes Mal für diesen Tag hole ich die
Kamera hervor und filme drei geschaffte aber zutiefst zufriedene Gesichter.